you remind me

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Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wer alles von meinen Bekannten auf diesem Planeten an Blogs schreibt. Sicher einige. Mein sozialer Autismus, der hier in diesem Blog ja nur seine visuell-graphische Manifestation findet, hält mich meist davon ab, rauszufinden, wer alles im Netz unterwegs ist.
Heute erhielt ich einen Link für einen neuen Blog. Der wird von einer Frau geleitet, bei der, na, ich mal Kostgänger war, meine Wäsche wusch und im Gegenzug jeden Samstag ihre Töchter badete. Außerdem durfte ich die „lieben Kleinen“ jeden Morgen zum KG fahren, weil Mama noch bis 10 Uhr im Bett lag; machte als konsequenter Atheist jeden Sonntag das Mittagessen, wenn die Familie in der Kirche war (weil’s da auch immer Suppe gab – Unterschicht auf ausländisch), missbrauchte ihre Internetflatrate bis zum Anschlag (Einsamkeit auf einheimisch), las Dornröschen in allen Sprache die ich kann, machte Nahkampfkonfliktbewältigung (Kindererziehung in Echtsprech) und ließ mich stets belehren über die Wunder der Fortpflanzung und Sojamilchproduktion im eigenen Heim.
All das fällt mir eben wieder ein, wenn ich dieselben Fratzen sehe, die mich gut behandelt haben – keiner muss bei uns unterm Tisch schlafen – aber die mir so penetrant auf den Wecker gefallen sind, dass es kaum zu glauben ist, dass ich freiwillig 6 Monate mit ihnen verbrachte, hoffend, irgendwie, es würde besser, man würde durchbrechen zu den Menschen hinter den Masken.


All das kommt wieder hoch. Der schleichende Verfall einer Ehe, der mir nicht verborgen blieb und mich ungemütlichst an die eigene Sozialisation erinnerte. Dass zur Rettung dieser kirchlich sanktionierten Fortpflanzungsgemeinschaft jetzt eben ein drittes Kind angeschafft wurde, Bindung bis das uns ein gerechtes Gesetz für allein erziehende Mütter scheidet. Eine Frau, unzufrieden mit dem eingeschlagenen Lebensweg, sich selber immer wieder überzeugen zu müssen, dass sie – ja? ja? jajajajaja???- die richtige Entscheidung im Leben getroffen hat, woher soll ich das wissen. Sich selbst überzeugen, dass es in D-Land nicht besser sein könnte, wäre der Mann nicht zu phlegmatisch und familienorientiert, um mal seinen müden Hintern hochzukriegen. Was an Liebe schon nicht mehr ankommt, wird jetzt auf das hilflose kleine Kind übertragen, eine Art Trost für die fehlende Zuwendung vom Erzeuger des Trostpflasters. Zwei weitere Kinder, die in diesem Haushalt aufwachsen und Antennen haben für das, was um sie passiert. Der Vater, der den Kindern seine Liebe nicht zeigt, weil er sich dafür schämt. Die Älteste, die hyperventiliert, rotzt, heult, schreit, weil man sie nicht zu beachten scheint.

Dazwischen: immer mal wieder ich. Auswege suchend. Meine Lunge in Briketts verwandeln, meistens muss ich dafür 21 Stunden warten. Kühle Morgen am versteckten Ende des Hauses am Waschkeller, wo man eine rauchen konnte. Spaziergänge in jeder freien Minute, raus aus diesem Loch. Weg von wabernden Selbstzweifeln und Kriselgefühlen. Pfefferminzdrops, jederzeit, weil man in unserer Familie gesund lebt (und nicht raucht). Merke ich. Auf der Strasse auf alles und alle eingehen. Man muss die Probleme schon selber an Land ziehen. Um zwei Uhr nachts bin ich auf einem Parkdeck, ein Mensch umgibt mich. Wir fahren Slalom um die Lichtmasten mit einem Honda Baujahr 91. Wir rauchen im Windschatten. Wir schauen in die Ferne: Da ist das Meer. Die Berge. Das Meer. Das Meer. Das Meer. Von hier führt kein Weg hinaus außer mit dem Schiff oder dem Flugzeug. Abhauen ist zu teuer. Dunkelheit, die Lichter der Vorstadt. Das Meer. Alles dunkel.
Jede Möglichkeit zum exzessiven Überschreiten des alltäglichen Wahnsinns in sich aufsaugen. What’s your name, where are you from, what can YOU do for ME? Zu besonderen Gelegenheiten besoffen durch die Innenstadt fahren mit 110km/h. Kiwiwein. Hm. Bierrumwhiskycolavodkaschnappsspritbierrumwhiskycolavodkaschnappssprit. Und wieder von vorne. The only thing that keeps me alive. Türen ahnungsloser Gutmenschen aufbrechen mit dem Vorhaben in ihre Badewanne zu scheißen. Verzweiflung macht sich breit und löst sich nur auf in der Abgabe des eigenen Verstandes beim Türsteher des besten Clubs des Landes. Bis zum Morgengrauen, wieder umgeben mich endlich andere Menschen, ach sind auch nur Masken, ach sind Menschen, sind Masken, schreien, weil sie genauso viel Angst haben, verrückt zu werden und nicht genug Geld haben um einfach schnell abzuhauen; dies ist eine Insel, egal wo du hingehst, es war schon jemand da und du setzt alles auf Anfang zurück.

Familienleben, Idylle, später. Irgendwann verliert man die Lust an allem, ein ständiger Kater begleitet mich. Die Menschen sind verschwunden. Ich besitze einen Kalender, dessen Zweck ist, mich zu überzeugen, dass ich hier rauskomme. Dass ich irgendwann mein Leben zurückbekomme, keine Gehirnwäsche mehr mitplanen muss, verroht, besoffen, jung und fucking alive sein darf.
Der endgültige Ausbruch (d.h. Abbruch, mit den Folgen als verachtenswert zu gelten) endet damit, seine Seele eine Nacht lang auszukotzen, weiterzumachen, mehr zu schreien, als Luft in der Lunge ist, ein Leuchten in den Augen, das die Nacht erhellt.
Kurve zurück zum neuen Blog. Ihr Menschen, die ihr das Leben im mentalen Schutzanzug verbringt – was habt ihr davon? Vielleicht irgendeine kleine Sicherheit, verbriefte Versprechen, mit denen ihr eure Freunde und Geliebten erpresst, ein kleines Glückskonto, wo man moderat abbuchen darf. Bloggt lustig weiter, ich will sehen, wie er tobt, der Wahnsinn des Alltags. In rosa Watte gepackt mit Wachs versiegelt schlaft ihr weiter bis ihr aufwacht und bemerkt, dass ihr schon längst tot seid. Toter als man es an einem kühlen grauen Morgen am Hinterausgang am Waschkeller bei einer gierig gezogenen Marlboro sein kann.

Der Artikel gibt die subjektive Meinung des Autors 100% wieder.

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